Das Kinderspiel
von Lisa-Maria Brusius, am 04. 2012 in der Kategorie: Werke
Im Januar des Jahres 1791 komponierte Mozart die drei Lieder Sehnsucht nach dem Frühling, das heute noch bekannt ist unter dem Titel „Komm, lieber Mai und mache“ (KV 596), Der Frühling („Erwacht zum neuen Leben“, KV 597) und Das Kinderspiel („Wir Kinder, wir schmecken“, KV 598) für Singstimme und Klavier. Diese erschienen im Frühjahr in der Abteilung „Frühlingslieder“ in der vierbändigen Liedersammlung für Kinder und Kinderfreunde am Clavier in Wien. Ignaz Alberti, der ein Logenbruder Mozarts und von Beruf Kupferstecher war, druckte dieses Liederheft. Es wurde vom Herausgeber der Sammlung, dem Dichter, Geistlichen und Pädagogen Placidus Partsch, dem Erzherzog Franz und seiner zweiten Frau, seiner Cousine Maria Theresia von Sizilien, gewidmet.1
Auf Grundlage der rechts stehenden Abbildung des Titelblatts2 lässt sich vermuten, dass die Lieder in einem privaten, häuslichen, entweder bürgerlichen oder adligen Kontext gesungen wurden. Welche Funktion könnten die Lieder in diesem Musizierzusammenhang eingenommen haben? Dieser Frage soll am Beispiel des Liedes Das Kinderspiel nachgegangen werden.
Der Musizierzusammenhang
Zunächst lässt sich ein Aspekt schon allein durch den Titel des Liedes vermuten. Das Kinderspiel diente der Unterhaltung der Kinder. Der Text von dem Dichter Christian Adolf Overbecks spricht von „necken“, „lärmen“, „singen“, „rennen“, „hüpfen“, „springen“ und betont die Natur als Umfeld für die spielenden Kinder, in der sich zahlreiche aufregende Dinge erleben lassen. Diese heitere Atmosphäre vermag Mozart gekonnt in Musik zu übersetzen. Das Lied ist mit der Vortragsbezeichnung „Munter“ überschrieben und steht in einem leicht-tänzerischen und raschen 3/8-Takt. Die Melodie weist durchgehende Sechzehntelketten und auffällig viele Melodiesprünge, sowie spielerische melodische Pendelbewegungen in sowohl Gesangs- als auch Klavierstimme auf. Es erhält dadurch einen freudigen, geradezu aufgedrehten und übermütigen Charakter.
Darüber hinaus wäre es möglich, dass das Lied den Kindern musikalische Bildung in angemessener Weise vermitteln sollte, denn die Bildung des Individuums gewann zunehmend einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft zu Mozarts Zeit. Die Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich aus durch das bürgerliche Streben nach Emanzipation, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht.3 Es entwickelte sich eine bürgerliche Gesellschaft, die sich von feudalen Gesellschaftsstrukturen loslöste. Nicht mehr der Stand war von Bedeutung, sondern der Bürger als Individuum und somit auch dessen Leistung und Bildung.4 Das Bürgertum sollte hierbei nicht als sozial eingegrenzte und klar umrissene Gruppierung gedacht werden – die bürgerliche Öffentlichkeit konnte sich durchaus aus einer Mischung von Adligen, ländlichen Grundbesitzern und herkömmlichem Stadtbürgertum zusammensetzen.5 Ausschlaggebend für die Kategorisierung des „neuen Bürgertums“ ist die Annahme, dass der Mensch ein Einzelwesen ist, das Fähigkeiten erst erlernen muss.6 Bildung wurde daher groß geschrieben. Der Bürger versuchte deshalb neben der höfischen Musizierpraxis eine häuslich-private zu etablieren.7 Weiter Gründe hierfür waren einerseits der Unterhaltungsaspekt, andererseits aber auch die gewollte Präsentation neuen Wohlstands. Das Klavier gehörte Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zum Inventar des bürgerlichen Haushalts. Volkstümliche Melodien fanden, bedingt durch diese Entwicklung, nun auch in der professionellen Musik ihren Platz.8
Aber auch der genrelle Wert, den die Aufklärung auf die Erziehung und Bildung legte, dürfte hinter der Liedersammlung stehen: Schließlich hatte schon Maria Theresia eine Schulreform in Gang gesetzt und unter Kaiser Joseph II. – also zu Mozarts Zeit – war niemand Geringeres als Baron Gottfried van Swieten Bildungsminister gewesen, der sich um eine flächendeckende und säkulare Schulbildung in allen Landesteilen einsetzte. Musik, das gemeinsame Singen und Musizieren der Kinder, spielte dabei eine wichtige Rolle.9
Es überrascht daher nicht, dass sich Mozart der Komposition von Kinderliedern widmete, die so besonders für den Anspruch der Aufklärung stehen. Er gewährleistet im Kinderspiel auf vielfache Weise, dass das Lied musikalischen Anspruch mit Einfachheit vereint. Untersucht man die Harmonik, so wird schnell deutlich, dass Mozart sich hauptsächlich auf die Hauptdreiklänge Tonika, Dominante und Subdominante beschränkt, mit Ausnahme der Kadenz, in der Mozart auch die Subdominantparallele h-moll verwendet. Dennoch ist der Anspruch für ein Kinderlied verhältnismäßig hoch, so hoch, dass bezweifelt werden muss, ob Kinder es auch selbst sangen oder ob es nicht doch durch Ältere, eben die "Kinderfreunde" vorgetragen werden sollte. Zwar spielt die rechte Hand des Klaviers die Gesangsstimme konsequent mit, was die Situation für den Sänger erheblich erleichtert haben dürfte, doch wird die Koordination der Stimme mit der Begleitung aufgrund der Schnelligkeit und der rhythmischen Verspieltheit nicht ohne weiteres und ohne ein wenig Übung möglich gewesen sein. Auch die erwähnten Melodiesprünge und chromatischen Pendelbewegungen erfordern eine gewisse gesangliche Kunstfertigkeit. Mozarts Lied Das Kinderspiel klingt trotz seiner einfachen harmonischen Grundlage für heutige Ohren keineswegs wie ein leicht singbares Kinderlied im Stile von „Alle meine Entchen“. Ungeachtet der Frage, ob dieses Lied von Kindern oder Erwachsenen musiziert werden sollte, stellt es einen Anspruch an das Kind als Zuhörer, welcher zu dessen musikalischer Bildung einen Beitrag leisten konnte, denn sowohl gängige Harmoniefolgen, wie auch einfache Formen der musikalischen Textausdeutung werden hierbei erprobt und eingeübt.
- Vgl. Otto Erich Deutsch: Mozart. Die Dokumente seines Lebens (= Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, X/34), Leipzig 1961, S. 342. Zu Partsch und seinem pädagogischen Wirken siehe David J. Buch: Placidus Partsch, die "Liedersammlung für Kinder und Kinderfreunde" und die letzten drei Lieder Mozarts. In: Acta Mozartiana 59 (2012). [↩]
- Titelblatt der „Liedersammlung für Kinder und Kinderfreunde am Clavier“, Heft „Frühlingslieder“. Hrsg. von Ignaz Alberti. Wien 1791. [↩]
- Vgl. Peter Schleuning: Der Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2000, S. 9-10. [↩]
- Vgl. Michael Schäfer: Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 29. [↩]
- Vgl. Schäfer 2009, S. 38-39. [↩]
- Vgl. Schäfer 2009, S. 39. [↩]
- Vgl. Guido Bimberg: Musik in der europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Köln 1997, S. 70. [↩]
- Vgl. Bimberg 1997, S. 75. [↩]
- S. auch Ernst Wangermann: Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gottfried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichtswesens 1781-1791. München 1987. [↩]