Musiksoziologische Vorüberlegungen

Welchen Nutzen hat aus musikwissenschaftlicher Perspektive die Untersuchung der Räume und Orte, die das Leben eines Komponisten während der Entstehung seiner Werke prägten? Oder, anders gefragt: Welche Erkenntnisse könnte man gewinnen, indem man eine Komposition nicht als zeitloses, von seinem Kontext abgelöstes Opus betrachtet, sondern als in einem bestimmten Raum, an einem konkreten Ort entstandene Musik - und wie sind die hiervon hinterlassenen Spuren beschaffen und rekonstruierbar? Und natürlich: Welche Untersuchungskriterien könnten dabei herangezogen werden? Zu diesen, ein solches Unterfangen begleitenden Fragen sollen nun einige Überlegungen vorgestellt werden.

Bei einer Werkanalyse auch biographische Informationen des Komponisten, mögliche musikalische Einflüsse und prägende Erfahrungen miteinzubeziehen, gehört schon lange zum Kanon der musikwissenschaftlichen Methodik. Aber erst durch die Musiksoziologie gelangten auch über das Individuum des Komponisten hinaus die Gesellschaft als Träger der Musikkultur, ihre soziale "Infrastruktur", ihre Institutionen als zweiter einflussreicher und damit zum Verständnis von Musik relevanter Faktor ins Blickfeld. Musik entsteht nicht "im luftleeren Raum", sondern ist durch ihre funktionelle Eingebundenheit in die Gesellschaft immer auch durch sie bedingt. Mozarts Werke wurden nicht einfach so, sondern mit einer bestimmten Motivation komponiert: für konkrete Anlässe, als Auftragswerke oder Unterrichtsmaterial, zum privaten Vergnügen im Kreis befreundeter Musikkenner und um schlicht seinen Lebensunterhalt zu verdienen - sie sind, ohne jegliche negative Konnotation, immer auch Gebrauchsmusik.
Ein möglicher Zugang zu diesen, die Musik bedingenden Umständen ist die Beschäftigung mit den Räumen und Orten, in denen sie seinerzeit aufgeführt wurde. Die Doppeldeutigkeit des Begriffes "Raum" erweist sich hier als Vorteil, denn nicht ausschließlich die physikalische (dies wäre Aufgabe der Akustik), sondern vor allem auch die soziale Komponente des Raumes sind entscheidend. Dadurch ergeben sich in Anlehnung an das noch relativ junge Forschungsfeld der Raumsoziologie schon einige Kriterien, auf die hin Räume untersucht werden können:

1) Die Größe: Wieviele Zuhörer fanden Platz? Welche Besetzung war nötig und möglich?

2) Die interne Strukturierung: Wer sitzt/steht wo? Wer kann von wem gesehen werden? Wie ist die Musik zum Publikum positioniert und wo liegt das Zentrum? Welche Gruppierungen und Hierarchisierungen der sich in ihm Befindenden gibt der Raum durch seine Gestaltungen und Plazierungen vor?

3) Die Zugänglichkeit: Wer konnte der Aufführung beiwohnen (nur geladene Gäste, bestimmte gesellschaftliche Kreise, wer den Eintritt bezahlen konnte, ...)?
Wem und wieso wurde der Raum zur Verfügung gestellt (Miete, Einladung, freundschaftlicher Gefallen, ...)?

4) Die Nutzung: Handelt es sich um einen "Mehrzweckraum", oder ist der Raum an bestimmte Anlässe (Ballsaal, Kirche) bzw. Gattungen (Oper) gebunden?

5) Die Lage: Ist der Raum zentral gelegen oder am Stadtrand, in welches Umfeld fügt er sich ein und welche Klientel verkehrte dort?

6) Das "Image": Besitzt der Raum eine Prestigewirkung, wird dadurch eine wichtige Position im kulturellen Kontext besetzt (bspw. Aufführung vor dem Kaiser)?

Anhand solcher Überlegungen lassen sich Rückschlüsse auf die Motivation Mozarts ziehen, bestimmte Werke in bestimmten Räumen aufführen zu lassen bzw. bestimmte Gattungen überhaupt erst oder sogar bevorzugt zu bedienen. Eine mögliche Absicht wäre die Etablierung in der an namhafter Konkurrenz nicht armen Stadt Wien als junger, aufstrebender Komponist. Hierzu galt es, öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen und vor allem die kulturell maßgebliche gesellschaftliche Schicht, also die Aristokratie, insbesondere die im Musikleben einflussreichen Persönlichkeiten zu erreichen. Eine Möglichkeit für diese Zwecke waren Akademien in etablierten Konzerträumen mit entsprechenden Werken, wo Mozart sich als brillanter, versierter und innovativer Musiker präsentieren konnte. Bedeutsam war sicher auch die Besetzung entscheidender Institutionen am Hof. Neben dem einhergehenden ideellen Gewinn hatten große öffentliche Aufführungen sicher auch eine materielle Bedeutung durch Einnahmen aus Eintrittsgeldern.
Seinen Lebensunterhalt verdiente Mozart außerdem durch Unterricht. So darf man annehmen, dass eine Gruppe von Werken hauptsächlich für diesen Anlass geschrieben wurde, wie viele Klaviersonaten. Diese mussten natürlich den musikalischen Fähigkeiten der Schülerinnen Mozarts gerecht werden und waren nicht für öffentliche Konzerte konzipiert, sondern auf die privaten Räumlichkeiten der Wiener Oberschicht zugeschnitten, aus der die Schülerinnen stammten.
Weiterhin bewegte sich Mozart auch in Kreisen von Musikliebhabern, denen er freundschaftlich verbunden war. Hierfür konnte er Musik schreiben, die nicht unbedingt dem gegenwärtigen Musikgeschmack der Allgemeinheit entsprachen. Eine möglichst breite Publikumswirksamkeit spielte keine Rolle. Stattdessen widmete er sich in Kompositionen für dieses Umfeld seinen eigenen momentanen Interessen und schrieb für sein Privatvergnügen.

Es zeigt sich also, dass die Werke Mozarts aus einem jeweiligen Kontext erwuchsen und durch eine Struktur geprägt sind, die aus sich gegenseitig bedingenden Faktoren wie Intention, Rezipienten, sozialer und physischer Raum und Anlass besteht. Ohne ein Verständnis dieser Zusammenhänge muss auch eine  Analyse seines künstlerischen Schaffens unvollständig bleiben. Die Idee des rein aus sich und nur für die Kunst schaffenden Genies, der viele Menschen immer noch anhängen, setzte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch.  Besonders nützlich ist dabei die hier eingenommene Perspektive des Raumes, da diese Betrachtungsweise den Einbezug vieler anderer Einflussfaktoren erlaubt, die eng mit einem Raum verknüpft sind, oder sich vielmehr im Raum erst manifestieren.

Literaturhinweise:

Christian Kaden: Musiksoziologie, Berlin 1984.

Christopher Small: Musicking. The meanings of performing and listening, Hannover u.a. 1998.

Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001.

Martina Löw: Silke Steets und Sergej Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen 2007.